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Die Szene mit der Zwangsheirat ist den Schülern des Theater-Kurses vom Gymnasium Kirchdorf-Wilhelmsburg noch ganz präsent. Vor Schülern in Istanbul spielten die 16- und 17- Jährigen aus Hamburg die Szene so, wie sie sich das Leben in der Türkei vorstellen: Der autoritäre Vater verkauft seine Tochter gegen ihren Willen. Doch die Istanbuler Schüler riefen dabei "Stopp, das stimmt nicht!". Und sie zeigten auf der Bühne ihre Version, wie es in ihrer Heimat heute eher üblich sei: Der Vater weist den Bewerber ab. Seine Tochter solle erst die Schule beenden, fordert er. Und danach könne sie heiraten - wenn sie wolle. Das ist ihr Blick auf die Realität.
Gemeinsam die Realität abbilden
"So lebt ihr" ist das Thema eines Theater-Projekts für Schüler aus Hamburg und Istanbul: Die Hamburger entwickelten im Oktober bei einem sechstägigen Besuch am Bosporus Szenen, wie sie sich das Leben der Jugendlichen dort vorstellen. Im gemeinsamen Workshop konnten die Istanbuler die Vorstellungen dann korrigieren, am Ende wurde auf Deutsch, Türkisch und Englisch - eine gemeinsame Theaterperformance erarbeitet und vor Zuschauern gezeigt.
Sichtweise der Istanbuler gefragt
Vom 7. bis 13. November kommen nun die Istanbuler Schüler nach Hamburg-Wilhelmsburg zum Gegenbesuch. Und auch hier soll am Ende - nach Tourismus wie Michel-Besuch, Elbefahrt und Stadterkundung - eine gemeinsame Theateraufführung stehen. Diesmal dreht sich das Theaterspiel um das Leben der Wilhelmsburger Jugendlichen, entwickelt aus den Sichtweisen der Istanbuler. Es geht um die eigene Identität, um die Sicht auf den anderen und die Bereitschaft, Vorurteile infrage zu stellen. "Wir müssen wissen, wer sind wir. Woher kommen wir? Und das können wir gut erfahren mit dem Blick woandershin", sagt die Schauspielerin Morena Bartel (44) von dem Ensemble "Theater am Strom", das auf Kinder- und Jugendarbeit spezialisiert ist. Dessen Regisseurin Christiane Richers hatte das Projekt entworfen. Bartel leitete die Arbeit in Istanbul, in Hamburg übernimmt der Istanbuler Theaterlehrer Ali Kirkar.
Theater heißt Kennenlernen
"Theater heißt sich kennenlernen, was voneinander wissen und Menschen sehen - und das hat auch mit Integration zu tun", meint Bartel. Dabei sind die Perspektiven hier ganz besondere. Elf der zwölf Schüler der Wilhelmsburger Theatergruppe haben Eltern, die nicht aus Deutschland kommen. Das ist typisch für den Stadtteil mit seinen sozialen Brennpunkten. Die meisten der 16- und 17-Jährigen sind türkischstämmig, einer hat polnische Eltern, einer marokkanische. Von einem Jugendlichen stammen die Eltern aus dem Kosovo, lediglich Max hat deutsche Eltern. Alle sprechen wie selbstverständlich Deutsch, auch wenn viele Türkischstämmige - nicht alle - zu Hause, wie sie berichten, mit ihren Eltern oder Großeltern meist Türkisch sprechen und mit Geschwistern eher Deutsch.
Istanbul hat positiv beeindruckt
"Unsere Jugendlichen leben mit und zwischen zwei Kulturen. Sie betrachten sich weder nur als Deutsche, obwohl sie in Deutschland geboren sind, noch nur als Türken", sagt der Lehrer Bruno Hoenig (62), der seine Schüler beim Besuch in Istanbul pädagogisch betreute. Für ein Gespräch unterbrechen Sara, Aslihan, Dennis, Emre, Adem, Jamila und Gamze die Theaterprobe in ihrer Wilhelmsburger Schule. Von der freien und modernen Atmosphäre in Istanbul waren sie wenig überrascht, die Metropole mit Blauer Moschee und Grand Bazar hat sie positiv beeindruckt, weniger der türkische Schulalltag.
Was wollen sie jetzt den Istanbulern für ein Bild von Wilhelmsburg vermitteln? "Ein gutes jedenfalls, auch wenn Wilhelmsburg einen schlechten Ruf hat", sagt Sara (17). Adem 17 Jahre alt - trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck "I love Istanbul". Er möchte, dass die Istanbuler erkennen: "Die Wilhelmsburger sind genau wie sie. Vielleicht stellen die sich das im Ausland anders vor, dass es hier noch freier ist als in der Türkei, aber so ist es nicht." Beim Thema Integration werden die Jugendlichen nachdenklich. "Integration heißt nicht nur, die Sprache zu lernen", sagt Emre (17). Die Menschen sollten sich auch der Kultur hier anpassen, "das ist für mich dann Integration".
Mehr Hilfe und weniger Kritik
Gamze (16) hält die Integrationsdebatte für wichtig. Aber für sie selbst spielt es keine Rolle, woher ihre Freunde kommen, auch wenn sie mehr türkische hat. Jamila (17), die eine deutsche Mutter und einen türkischen Vater hat, findet die Integration in Deutschland "teils sehr gut geglückt, aber auch teils sehr problematisch". Sie stimme manchen Politikern zu, dass sich manche Migranten nicht richtig integrieren, "aber das hängt auch damit zusammen, dass es an Organisationen und Unterstützung für Integration fehlt: Manche wollen Deutsch lernen, kriegen aber nicht die Möglichkeit dazu." Mehr Hilfsangebote seien notwendig und nicht nur Kritik. Ihre Probleme mit der eigenen Identität sehen die Wilhelmsburger Schüler locker sogar beim Fußball. Beim Länderspiel Deutschland gegen die Türkei waren die meisten Türkischstämmigen unlängst für die Türkei, wie sie sagen. "Aber dass Mesut Özil ausgepfiffen wurde, das hat er nicht verdient", sagt Emre unter allgemeiner Zustimmung. Denn auf die Leistung des Deutschtürken Özil im deutschen Nationaltrikot lassen sie nichts kommen.