Güncelleme Tarihi:
Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident,
sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,
sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
Exzellenzen,
sehr geehrte Damen und Herren,
ganz besonders aber: liebe Familien, die Sie einen Angehörigen verloren haben oder selbst einen Anschlag erleben mussten,
Sie haben wir entzündet für alle bekannten wie unbekannten Opfer rechtsextremistischer Gewalt. Auch ihnen ist diese Gedenkveranstaltung gewidmet. Zu jedem dieser Menschen gehören eine Familie, Freunde und Bekannte. Ihr Leid, ihre Sorgen sind kaum zu ermessen.
Die Menschenverachtung der rechtsextremistischen Mörder ist letztlich unbegreiflich. Und doch müssen wir versuchen zu ergründen, wie und durch wen sie so geworden sind, wie sie geworden sind. Wir müssen alles tun, damit nicht auch andere junge Männer und Frauen zu solcher Menschenverachtung heranwachsen. Das sind wir den Opfern, das sind wir ihren Angehörigen, das sind wir uns allen schuldig.
Viele Hinterbliebene sind heute unter uns. Ich weiß, wie schwer ihnen das gefallen ist. Sie haben mir vorhin von ihrem großen Schmerz erzählt. Sie haben mir erzählt, wie allein gelassen sie sich gefühlt haben. Umso dankbarer bin ich, dass wir heute gemeinsam hier sein können. Ich danke auch den Angehörigen, die nachher ebenfalls das Wort an uns richten werden: Herrn Ismail Yozgat, Semiya Şimşek und Gamze Kubaşik.
Die meisten von ihnen blieben allein in ihrer Not. Denn die Hintergründe der Taten lagen im Dunkeln viel zu lange. Das ist die bittere Wahrheit. Nur wenige hierzulande hielten es für möglich, dass rechtsextremistische Terroristen hinter den Morden stehen könnten, nachdem bislang für typisch gehaltene Verhaltensmuster von Terroristen, wie zum Beispiel Bekennerschreiben, nicht vorlagen. Das führte stattdessen zur Suche nach Spuren im Mafia- und Drogenmilieu oder gar im Familienkreis der Opfer. Einige Angehörige standen jahrelang selbst zu Unrecht unter Verdacht. Das ist besonders beklemmend. Dafür bitte ich sie um Verzeihung.
Nicht nur vergingen Jahre, ohne zumindest Fortschritte bei der Aufklärung der Taten zu erzielen. Nein, diese Jahre müssen für Sie, liebe Angehörige, ein nicht enden wollender Albtraum gewesen sein. In einem der Gespräche, die Altbundespräsident Wulff mit Hinterbliebenen geführt hat, fiel der Satz ich zitiere: „Wir wollten einfach nur wie normale Menschen behandelt werden.“ Wie normale Menschen diese drei Worte zeigen ihre ganze Verzweiflung. Wie schlimm muss es sein, über Jahre falschen Verdächtigungen ausgesetzt zu sein, statt trauern zu können?! Welche Qual ist es, wenn Nachbarn und Freunde sich abwenden, wenn sogar nächste Angehörige zweifeln?! Und wie wird man fertig mit der Skepsis, ob die Sicherheitsbehörden wirklich alles Menschenmögliche tun, um den Mord an dem Nächsten aufzuklären?!
Liebe Hinterbliebene, niemand kann Ihnen den Ehemann, den Vater, den Sohn oder die Tochter zurückbringen. Niemand kann die Jahre der Trauer und der Verlassenheit auslöschen. Niemand kann den Schmerz, den Zorn und die Zweifel ungeschehen machen. Aber wir alle können Ihnen heute zeigen: Sie stehen nicht länger allein mit Ihrer Trauer. Wir fühlen mit Ihnen. Wir trauern mit Ihnen.
Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck. Das ist wichtig genug, es würde aber noch nicht reichen. Denn es geht auch darum, alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates Stehende zu tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann.
Inzwischen wurde eine Bund-Länder-Kommission zur Aufarbeitung des Rechtsterrorismus eingerichtet. Zudem haben im Landtag von Thüringen und im Deutschen Bundestag Untersuchungsausschüsse ihre Arbeit aufgenommen. Erste Weichen für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Verfassungsschutz und Polizei sowie zwischen den Landes- und Bundesbehörden sind gestellt.
Wir tun dies, weil wir nicht hinnehmen, dass Menschen Hass, Verachtung und Gewalt ausgesetzt werden. Wir tun dies, weil wir entschieden gegen jene vorgehen, die andere wegen ihrer Herkunft, Hautfarbe, Religion verfolgen. Überall dort, wo an den Grundfesten der Menschlichkeit gerüttelt wird, ist Toleranz fehl am Platz. Toleranz richtete sich selbst zugrunde, wenn sie sich nicht vor Intoleranz schützte.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ So beginnt unser Grundgesetz. Das war die Antwort auf zwölf Jahre Nationalsozialismus in Deutschland, auf unsägliche Menschenverachtung und Barbarei, auf den Zivilisationsbruch durch die Shoah. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das ist das Fundament des Zusammenlebens in unserem Land, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Wann immer Menschen in unserem Land ausgegrenzt, bedroht, verfolgt werden, verletzt das die Fundamente dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung, verletzt es die Werte unseres Grundgesetzes. Deshalb waren die Morde der Thüringer Terrorzelle auch ein Anschlag auf unser Land. Sie sind eine Schande für unser Land.
Zu meiner Arbeit als Bundeskanzlerin gehört es, dass ich mir Videos von Tätern, zum Beispiel bei Geiselnahmen, gelegentlich persönlich anschaue. Ich habe mir auch das Video angeschaut, das jetzt im Zuge der Ermittlungen gegen die Thüringer Terrorzelle entdeckt wurde. Es ist mit Elementen der bekannten Zeichentrickfilmserie mit dem rosaroten Panther gestaltet worden. In diesem Video prahlen seine Macher mit den Morden und verhöhnen die Opfer. Etwas Menschenverachtenderes, Perfideres, Infameres sofern es solche Steigerungsformen überhaupt gibt habe ich in meiner Arbeit noch nicht gesehen.
Ich habe mich gefragt: Wie kommen Menschen dazu, so etwas zu denken und zu tun? Wer oder was prägt extremistische Täter? Wie kann es sein, dass solche Täter immer wieder Helfershelfer und Anhänger finden? Wie schützen wir Menschen vor Anfeindung und Bedrohung am besten?
Wir müssen uns eingestehen, dass wir dabei zum Teil scheitern. Wir müssen uns eingestehen, dass manchmal gerade dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch und die Abwanderung stark ist, oft auch die vertrauten Strukturen der Jugendarbeit verloren gehen, das Freizeitangebot schwindet und die Feinde unserer Demokratie das zu nutzen wissen. Es ist ein schlimmer Zustand erreicht, wenn Neonazis junge Menschen mit Kameradschaftsabenden einfangen können, weil niemand sonst sich um diese Jugendlichen kümmert. Es darf uns nicht ruhen lassen, wenn eine verfassungsfeindliche und rechtsextremistische Partei junge Familien mit Spielen und Festen ködern kann, weil andere das nicht bieten.
Der Staat ist hier mit seiner ganzen Kraft gefordert. Doch mit staatlichen Mitteln allein lassen sich Hass und Gewalt kaum besiegen. Die Sicherheitsbehörden benötigen Partner: Bürgerinnen und Bürger, die nicht wegsehen, sondern hinsehen eine starke Zivilgesellschaft. Diese lässt sich nicht verordnen. Sie beruht darauf, dass sich jeder mitverantwortlich für das Ganze fühlt, dass jeder seinen persönlichen Beitrag zu einem friedlichen Zusammenleben leistet. Zivilgesellschaft wächst in den Familien. Bereits in frühen Jahren erlernen Kinder die Grundlagen eines verantwortungsbewussten Miteinanders. Sie wächst in Freundes- und Bekanntenkreisen. Sie wächst in Schulen, Vereinen und im beruflichen Umfeld.
Ich sehe auch viele ermutigende Zeichen, viele Menschen, die sich für ein friedliches Miteinander engagieren zum Beispiel in Dresden, wo vor wenigen Tagen Tausende Bürgerinnen und Bürger des Jahrestages der Bombardierung der Stadt gedachten und sich dabei die Hände reichten. Mit dieser Geste boten sie den Neonazis Einhalt, die dieses Gedenken missbrauchen wollten. Tagtäglich setzen zahlreiche kleine und größere Initiativen in unserem Land Zeichen gegen Hass und Gewalt. Ins Leben gerufen wurden sie von couragierten, mutigen Menschen. Einige von ihnen sitzen hier unter uns. Ich danke Ihnen stellvertretend für viele andere in unserem Land. Ich danke den Stiftungen, den Medien, den Lehrern und Geistlichen, den Unternehmern, den Vertretern von Verbänden und Vereinen, die alle mit ihren Möglichkeiten für ein gedeihliches Miteinander werben und gegen Hass und Gewalt eintreten.
Der Kampf gegen Vorurteile, Verachtung und Ausgrenzung muss täglich geführt werden in Elternhäusern, in der Nachbarschaft, in Schulen, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, in religiösen Gemeinden, in Betrieben. Überall sollten wir ein feines Gehör und Gespür für die kleinen Bemerkungen, die hingeworfenen Sätze entwickeln. So manche Bemerkung nimmt man schnell mal auf die leichte Schulter nach dem Motto: Der oder die meint das doch nicht so ernst.
Doch Intoleranz und Rassismus äußern sich keineswegs erst in Gewalt. Gefährlich sind nicht nur Extremisten. Gefährlich sind auch diejenigen, die Vorurteile schüren, die ein Klima der Verachtung erzeugen. Wie wichtig sind daher Sensibilität und ein waches Bewusstsein dafür, wann Ausgrenzung, wann Abwertung beginnt. Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit stehen oft am Anfang eines Prozesses der schleichenden Verrohung des Geistes. Aus Worten können Taten werden.
Der irische Denker Edmund Burke hat einmal gesagt ich zitiere: „Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.“ Ja, Demokratie lebt vom Hinsehen, vom Mitmachen. Sie lebt davon, dass wir alle für sie einstehen, Tag für Tag und jeder an seinem Platz. Demokratie zu leben mutet uns zu, Verantwortung zu übernehmen für ein Zusammenleben in Freiheit und damit für ein Leben in Vielfalt. Gelingt dies, kann Vielfalt ihren Reichtum zum Besten aller entfalten.
Deutschland hat diese Erfahrung in seiner Geschichte immer wieder gemacht. Denn es ist auch eine Geschichte der Auswanderung und der Zuwanderung. So wurden Brücken in alle Welt geschlagen. Seinen Wohlstand verdankt Deutschland zu einem guten Teil seiner Weltoffenheit und seiner Neugier auf andere. Wir leben hierzulande von Verschiedenheit, von den unterschiedlichsten Lebenswegen. Deutschland das sind wir alle; wir alle, die in diesem Land leben; woher auch immer wir kommen, wie wir aussehen, woran wir glauben, ob wir stark oder schwach sind, gesund oder krank, mit oder ohne Behinderung, alt oder jung.
Wir sind ein Land, eine Gesellschaft. Auch die, die zu uns aus vielen Ländern dieser Welt kommen, sind nicht einfach die Zuwanderer. Auch sie sind vielfältig und unterschiedlich. Wir alle gemeinsam prägen das Gesicht Deutschlands, unsere Identität in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts getragen von unserem Grundgesetz und seinen Werten, unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, formuliert in unserer Sprache. Gemeinsam verteidigen wir alle, die wir uns zu diesen Werten bekennen, die in unserer Verfassung zu Beginn festgeschriebene unantastbare Würde des Menschen.
Das ist die Botschaft der zwölften Kerze auf dem Podest. Sie ist das Symbol unserer gemeinsamen Hoffnung und Zuversicht für eine gute Zukunft. Lassen Sie uns alle gemeinsam, jeder an seinem Platz und nach seinen Möglichkeiten, für diese Hoffnung und diese Zuversicht leben zum Wohle unseres Landes und seiner Menschen.