Güncelleme Tarihi:
Die "Ichlinge" haben ausgedient. "In Krisenzeiten ist kein Platz für Egoisten mehr", sagt der Hamburger Zukunftsforscher Prof. Horst Opaschowski. In den Jahren seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sei die "Spaßkultur" einer neuen Ernsthaftigkeit gewichen. "Das Zeitalter der Ichlinge geht zu Ende." Die Krisenerfahrung, betont der 69-Jährige, verändere die Werteskala der Menschen in Deutschland.
Wir rücken mehr zusammen
"Das Ich braucht das Wir" - auf diese Formel bringt der Forscher die neue Leitlinie des Lebens. Die Sehnsucht nach Halt und Heim, nach sozialer Geborgenheit und menschlicher Wärme wächst. Die Menschen rücken enger zusammen, Ehe, Kinder und Familie sind wieder "in". Das geht für Opaschowski aus einer Wertewandel-Studie der BAT Stiftung für Zukunftsfragen hervor. Für die repräsentative Untersuchung wurden im Frühjahr und Sommer 2000 Menschen ab 14 Jahren befragt.
Die Studie ist auch Teil von Opaschowskis Buch "Wir! Warum Ichlinge keine Zukunft mehr haben", das am vergangenen Donnerstag erschienen ist. Darin blickt er auf Ergebnisse aus gut 30 Jahren als wissenschaftlicher Leiter der Stiftung zurück - und flicht auch Biografisches ein. Der 69-Jährige will seinen Posten Ende des Jahres aufgeben.
Wir setzen auf die "3V"
Die Lebensideale der 80er und 90er Jahre - die Zeit der Spaßgesellschaft und "Erlebnisinflation" - würden nun immer fragwürdiger, betont der Wissenschaftler. "Im Zirkel von Konsum und Neugier gefangen, drohte eine "born-to-shop-Generation" in die Wohlstandsfalle zu geraten und über ihre Verhältnisse zu leben." Und heute? Zusammenhalt statt Ego-Kult, soziales Wohlergeben statt Wohlstand, Beständigkeit statt Beliebigkeit. Die Menschen setzten auf die "3 V": Vertrauen, Verantwortung, Verlässlichkeit.
Angst treibt die neue Leitlinie an
Getrieben allerdings ist dieser Einstellungswandel von Angst. "Dahinter verbirgt sich die Zukunftsangst vor einer Gesellschaft ohne soziale Sicherung - ohne sicheres Einkommen, ohne sicheren Job und ohne sichere Rente." Sehnten sich 1995 noch 49 Prozent der damals Befragten nach Sicherheit, waren es in diesem Jahr 80 Prozent. Für materielle Sicherheit und soziale Geborgenheit würden auch Einbußen an persönlicher Freiheit hingenommen. Der Hunger nach Geborgenheit werde größer als der Durst nach Freiheit, sagt Opaschowski - weil die Politik nicht ausreichend für Schutz und Sicherheit sorgen könne.
Kein Vertrauen in Politik
Dennoch erhofften sich die Bürger von der Politik eine Art Bürgschaft für soziale Sicherheit. Andererseits verlören viele Menschen aber zunehmend das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Politikern und Parteien. Drastisch zugenommen hat laut Opaschowski etwa der Anteil der Wähler, der Politiker für "nicht mehr ehrlich" hält: von 50 Prozent (2002) auf 90 Prozent (2010). "Die große Entfremdung zwischen Wählern und Politikern setzt ein." Die Folge: Die Bürger setzten auf mehr Volksentscheide - und mehr Selbsthilfe.
"No future war gestern"
Opaschowski sieht die Gesellschaft auf dem Weg zur "Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit". Das heißt: Wer sich helfen lässt, muss auch ein Mindestmaß an Gegenleistung erbringen. Dies gelte auch für Empfänger staatlicher Sozialleistungen: 83 Prozent der Menschen in Deutschland erwarteten von ihnen, dass sie etwa gemeinnützige Arbeiten leisten.
Unbeeinflusst von Krisen und Zeitgeist sieht der 69-Jährige die Familie. Der Forscher macht eine neue Lust auf Familie aus: "Konsum oder Kind - das ist keine echte Alternative mehr." Die Renaissance der Familie stehe unmittelbar bevor, sie sei nicht länger ein Auslaufmodell. "Die Familie - in welcher Lebensform auch immer - garantiert Ansehen, Sicherheit und Geborgenheit, die kein Prestigeberuf und auch kein Sozialstaat bieten können." Der "Wandel des Wertewandels" macht Opaschowski Hoffnung. "Eine Art Zukunftsoptimismus breitet sich aus", bilanziert er. "´No future´ war gestern."