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Wenn Sie jeden Tag die Akten auf Ihren Schreibtisch bekommen, welche Akte liegt zur Zeit ganz oben?
Syrien. Es besorgt mich sehr, dass Russland so lange seine schützende Hand über das Regime in Damaskus gehalten hat. Gestern haben die Chemiewaffeninspektoren der Vereinten Nationen bestätigt, dass in Syrien tatsächlich fürchterliche Chemiewaffen eingesetzt wurden. Jetzt sollte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Internationalen Strafgerichtshof anrufen, damit die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
In Syrien spitzt sich die Lage zu. Es steht fest, dass Sarin und anderes Giftgas eingesetzt wurde. Ist ein militärischer Angriff geplant?
Ich bin sehr skeptisch, was den Nutzen militärischer Interventionen angeht, gerade in Syrien. Ich bin überzeugt, dass es in Syrien dauerhaften Frieden und Stabilität nur mit einer politischen Lösung geben wird. Wir haben unsere große Solidarität mit der Türkei zum Ausdruck gebracht, als wir unsere Patriot-Luftabwehrsysteme in die Türkei geschickt haben.
ASSAD-REGIME
Wissen Sie schon, wer die Täter sind?
Die Indizien sprechen dafür, dass die Verantwortung für die Giftgasangriffe beim Assad-Regime liegt. Der Internationale Strafgerichtshof ist die dafür berufene neutrale Instanz. Er sollte jetzt seine Arbeit aufnehmen können. Dafür muss der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen grünes Licht geben.
Was macht ein so mächtiger Mann am Sonntag? |
Wenn wir die mächtigsten zehn Menschen auf der Welt aufzählten, einer von den wäre sicherlich der deutsche Außenminister. Haben Sie sich überlegt, was so ein mächtiger Mann am Sonntag macht? Ich habe das Guido Westerwelle während des Frühstücks in Köln, in der Bäckerei unseres Landsmannes İsmail aus Urfa gefragt.. “Ich laufe” sagte er und fuhr fort, “Ich laufe lange Strecken. Dann mache ich ein ausgiebiges Frühstück”. Später vielleicht ein Opernbesuch... Während der Minister erzählte, servierte İsmail die Teigtaschen. In seinem Laden hängen an der Wand wunderschöne Bilder seiner Heimatstadt Şanlıurfa. Während der Minister die Bilder betrachtete sagte er “Ah Istanbul“. “Das war eine Liebe auf den ersten Blick. Was für eine unbeschreibliche Schönheit“ ergänzte er. Wir hatten ein langes Gespräch mit Minister Westerwelle. Die Details finden Sie sowohl in der Zeitung, als auch unter hurriyet.com.tr Meine Eindrücke sind kurz gefasst diese: Eine sehr ausgegliche Persönlichkeit Seriöse Tiefgründigkeit Sportliche Gestalt Jemand, der mit seinen Personenschützern freundschaftlich umgeht Es war so, als ob wir uns nicht mit Jemanden unterhielten, der die politische Macht, Führung innehat, sondern mit einem Freund aus Universitätstagen. Heute werde ich in Hamburg die Wahlkampfveranstaltung der Bundeskanzlerin Merkel verfolgen. Meine Eindrücke darüber werden Sie am Freitag in meiner Kolumne finden... |
Muss es erst zum Einsatz von Chemiewaffen kommen, damit der Internationale Strafgerichtshof einschreitet?
Der Bürgerkrieg ist schrecklich und hat furchtbare Opfer gefordert, über 100.000 Tote, Millionen Flüchtlinge. Aber nicht alle, die auf Seiten der Opposition kämpfen, stehen wirklich auf unserer Seite. Die Tatsache, dass ein Terrorist gegen Assad kämpft, macht ihn nicht zu unserem Freund. Der Einsatz von chemischen Waffen ist ein zivilisatorisches Verbrechen; das ist im 21. Jahrhundert zum ersten Mal geschehen. Wenn wir dagegen nicht mit den Möglichkeiten des internationalen Rechts vorgehen, ist die Gefahr groß, dass andere es nachahmen.
Sehen Sie eine Lösung ohne Assad?
Diese Frage stellt sich auf der zweiten Genfer Konferenz, die den Weg in eine politische Lösung weisen soll. Die erste Genfer Konferenz hat die Richtung vorgegeben. Eine syrische Übergangsregierung mit echten exekutiven Befugnissen, echter Regierungsgewalt und zusammengesetzt im Konsens der Konfliktparteien. Manche glauben immer noch, eine militärische Lösung sei möglich. Ich glaube das nicht. Am Ende einer militärischen Lösung wird es nur mehr Terror und einen zerfallenen Staat geben. Es werden Bewaffnete in den Untergrund gehen, unabhängig davon, wer den Bürgerkrieg gewinnt. Es wird neuer Terror entstehen. Und dieser Terror wird die Türkei bedrohen und auch uns in Mitteleuropa. Das ist meine ernste Sorge. Wir sehen manches davon schon am Beispiel Irak.
Was wird passieren, wenn Assad nicht freiwillig geht?
Russland hat viel zu lange das Regime von Assad unterstützt. Aber jetzt gibt es wieder eine kleine Chance für eine politische Lösung. Dieses Momentum, diese Gelegenheit müssen wir nutzen. Nächste Woche bereits kommt die internationale Gemeinschaft in New York bei der UN-Vollversammlung zusammen. Dort braucht der politische Prozess neuen Schwung. Das ist auch der Grund, warum ich schon am Tag nach der Bundestagswahl nach New York reisen werde.
ES GIBT KEINE MILITARISCHE LÖSUNG
Es gibt Kritik, dass die Einigung der beiden Außenminister in Genf eigentlich Zeit für das Überleben von Assad geben haben. Teilen Sie diese Meinung?
Ich glaube nicht an eine militärische Lösung. Und deswegen begrüße ich die Bewegung, die in Genf entstanden ist. Wir sind Partner auf Augenhöhe, auch NATO-Partner. Wir stimmen uns engstens ab. Aber natürlich ist die Lage für die Türkei vor dem Hintergrund der vielen Flüchtlinge aus Syrien anders. Je größer der militärische Konflikt in Syrien wird, je länger in Syrien gekämpft wird, desto mehr Menschen werden auch in die Nachbarländer fliehen. Ich habe allergrößten Respekt für die Aufnahmebereitschaft in der Türkei für die Flüchtlinge aus Syrien.
Hat Kerry sich versprochen?
Die USA wollten militärisch eingreifen. Aber dann hat Außenminister Kerry in London gesagt, dass wenn Syrien seine Chemiewaffen vernichtet, ein Angriff nicht nötig ist.
Hat Kerry sich da versprochen?
Wir haben schon in den Tagen zuvor, beim G20-Treffen in Sankt Petersburg und beim Treffen der europäischen Außenminister in Vilnius, sehr intensiv über mögliche Lösungen für das Unschädlichmachen der syrischen Chemiewaffen gesprochen. Die Öffentlichkeit war überrascht, aber die Diplomaten hatten das schon seit einiger Zeit im Gespräch. Außenminister Kerry hat dann in London den richtigen Zeitpunkt gesehen, vielleicht auch etwas spontan. Eine Woche später haben wir vernünftige Ergebnisse in Genf, unter Mitwirkung von Russland.
Die Spanier und Griechen haben ein besonderes Augenmerk auf die Bundestagswahlen. Weil Deutschland das stärkste Land in der EU ist, gleichzeitig auch das stärkste NATO-Mitglied. Sowohl die Griechen als auch die Spanier fragen sich, ob Deutschland weiter helfen wird...
Deutschland hat Garantien in Höhe von einem nationalen Jahresbudget übernommen. Das ist vorbildliche europäische Solidarität. Aber Geld alleine löst das Problem nicht. Die Türkei hat vorgemacht, wie es geht: Wenn man beherzt Reformen anpackt, wenn man sich den neuen Zeiten der Globalisierung anpasst, wenn man bereit ist, die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, dann erreicht man vieles: Wirtschaftswachstum, mehr Arbeitsplätze, steigende Löhne und mehr Wohlstand. Deswegen ist es ein Kernanliegen meiner Politik, dass wir nicht in die alte Schuldenpolitik zurückfallen. Die Länder in Europa, die zu viel Schulden gemacht haben, erleben heute Massenarbeitslosigkeit und schlimmer noch: hohe Jugendarbeitslosigkeit. Schuldenpolitik bringt Massenarbeitslosigkeit. Wer investiert schon in einem Land, das überschuldet ist? Deswegen führt kein Weg daran vorbei, dass der begonnene Kurs der Reformen in ganz Europa konsequent fortgesetzt wird. Ich erinnere mich gut, wo die Türkei vor 15 Jahren stand. Und wo steht sie heute? Das geht nur mit harter Arbeit, Disziplin und mit Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit.
Außenminister Davutoğlu gab bekannt, dass das 22. Kapitel der Verhandlungen bezüglich des Beitritts der Türkei in die EU begonnen habe. Doch wir haben erfahren, dass die Kommission diesbezüglich noch keine endgültige Entscheidung getroffen hat. Wie ist die Situation jetzt?
Wir haben die Eröffnung des Kapitels zur Regionalpolitik vereinbart. Das geht auf eine hervorragende Zusammenarbeit mit meinem Freund Ahmet Davutoğlu zurück. Wir haben einen guten Kompromiss gefunden. Jetzt warten wir den Bericht der EU-Kommission im Oktober ab. Und dann sind die letzten Entscheidungen zu treffen.
Morgen: Was hat Minister Westerwelle in Bezug auf die Tortur der Urlauber an der bulgarisch-türkische Grenze gesagt?